Teil III: Der Titel als Türschild – und die Frage, wer hier eigentlich adressiert wird

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Es gibt Sätze, die sind keine Sätze. Sie sind Berührungen.

Ein Buchtitel zum Beispiel. Man liest ihn nicht nur – man wird von ihm gelesen. Er legt eine Hand auf die Schulter, noch bevor man überhaupt entschieden hat, ob man eintreten will. Und mein AuDHS-Gehirn, dieses hyperaufmerksame System aus Mustererkennung, Gerechtigkeitsradar und Reiz-Reaktionsverkürzung, reagiert auf so ein Türschild nicht langsam, nicht „literarisch“, sondern körpernah: Ping. Kategorie erkannt. Konflikt erkannt. Positionierung droht.

„Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit.“

Da ist, in einem einzigen Atemzug, bereits eine Welt erklärt: eine Gruppe, ein Zustand, ein Gegner. Und ich merke, wie in mir eine kleine, peinlich schnelle Gegenbewegung entsteht – kein Widerlegen, keine Polemik, eher so etwas wie ein inneres Zusammenzucken: Und ich? Bin ich hier Person oder nur Gegenfolie?

Das ist der Moment, der mich interessiert. Nicht weil ich glaube, dass der Titel „unfair“ ist – sondern weil ich spüre, wie leicht im öffentlichen Diskurs aus Analyse ein Urteil wird, aus Struktur ein Charaktertest, aus einem Fokus ein Tribunal. Und weil ich zugleich weiß: Wenn ein Titel mich reizt, heißt das nicht automatisch, dass er Unrecht hat. Es heißt nur: Er trifft eine Stelle, an der Begriffe und Biografien sich ineinander verhaken.

In meinen letzten Texten habe ich diese Verhakung von zwei Seiten her beschrieben: einmal als übersehene Differenz zwischen Macht und Verhalten (wenn „Mann“ zur Abkürzung für Schuld wird), und einmal als das merkwürdige Feld „Verantwortung ohne Resonanz“ (wenn Männer zwar reflektieren sollen, aber die eigene Erschöpfung nur unter Verdacht artikulieren dürfen). Dieser dritte Text ist der Versuch, beides zusammenzubinden – und dabei nicht an der Oberfläche zu bleiben, wo man sich gegenseitig mit Etiketten bewirft, sondern tiefer zu gehen: zur Philosophie der Anrede, zur Ethik des Fokus, zur Ökonomie der Verfügbarkeit.

Denn vielleicht ist das eigentliche Thema nicht nur „Erschöpfung“, sondern: Wer darf als erschöpft gelten – und unter welchen Bedingungen?

1. Verfügbarkeit: der stille Vertrag, den niemand unterschreibt und doch alle erfüllen

„Verfügbarkeit“ ist eines dieser Worte, die man zuerst für banal hält, bis man merkt, dass es eine komplette Sozialtheorie in sich trägt.

Verfügbar ist, wer nicht nur da ist, sondern bereit: bereit, zu reagieren, zu kümmern, zu glätten, zu tragen, zu fühlen, zu erklären, zu entschuldigen, zu organisieren. Verfügbar ist, wer seine eigene Zeit nicht wirklich besitzt, weil sie innerlich schon verplant ist – als Reserve für die Bedürfnisse anderer. Verfügbar ist, wer im Raum sitzt und gleichzeitig die Luftfeuchtigkeit des Raums managt.

Und Verfügbarkeit ist nicht nur ein individuelles Muster („Ich kann schlecht Nein sagen“). Sie ist ein kulturelles Arrangement: eine Erwartungsarchitektur. Sie setzt sich zusammen aus Rollenbildern, aus Institutionen, aus ökonomischen Anreizen, aus Familiennarrativen, aus dem, was wir „normal“ nennen. Sie ist das, was passiert, wenn Fürsorge nicht als Arbeit gilt, sondern als Natur; wenn Emotionalität als Ressource betrachtet wird, nicht als Grenze; wenn „Zuständigkeit“ nicht verhandelt, sondern zugewiesen wird.

Schutzbach – so wie ich es aus Klappentexten, Interviews und Rezensionen verstehe – setzt genau hier an: Erschöpfung nicht als privates Scheitern, sondern als politisches Symptom. Nicht „du bist falsch“, sondern „die Spielregeln sind so gebaut, dass bestimmte Menschen häufiger leer laufen“.

Das ist eine starke These, und sie trifft eine Realität, die man im Alltag sehr gut beobachten kann: in Care-Arbeit, in mentaler Last, in Beziehungsmikrologik, in der stillen Annahme, wer „zuständig“ ist, wenn etwas unschön wird. Es ist plausibel, dass diese Verfügbarkeitslogik historisch und aktuell ungleich verteilt ist – und dass Frauen (und weiblich gelesene bzw. sozialisierte Personen) davon strukturell stärker betroffen sind.

Und trotzdem: Mein erster Reflex ist Ärger.

Nicht, weil ich diese Ungleichheit nicht sehen will. Sondern weil die Sprache der Ungleichheit im Diskurs oft eine zweite, unbemerkte Funktion bekommt: Sie entscheidet, wer als Individuum noch sprechen darf, ohne als Kategorie abgeurteilt zu werden.

2. Die Kränkung der Kategorie: Wenn „Mann“ nicht mehr Beschreibung ist, sondern Schicksal

Es gibt eine spezielle Form von Kränkung, die nicht mit „Beleidigung“ zu tun hat, sondern mit Vereinfachung.

Sie passiert, wenn ich das Gefühl habe, dass mein konkretes Verhalten – meine Mühe, meine Praxis, meine Unzulänglichkeiten, meine Lernbewegungen – plötzlich weniger zählen als ein Gruppenschild. Wenn „Mann“ nicht mehr eine Tatsache ist, sondern ein argumentativer Shortcut: Ah, du. Dann weiß ich ja, wie das hier läuft.

In meiner „übersehenen Differenz“-Linie ist das der Kern: Wenn in Debatten die Struktur so stark wird, dass sie Handlung ersetzt; wenn „Position“ automatisch „Absicht“ bedeutet; wenn „Macht“ zu „Schuld“ verkürzt wird. Dann verliert eine Diskussion etwas Entscheidendes: Präzision.

Und Präzision ist nicht Luxus. Präzision ist Respekt.

Mein AuDHS-Gehirn hat dafür eine geringe Toleranz, weil es Kategoriefehler wie Sand im Getriebe spürt: Man kann nicht gleichzeitig sagen „Es geht um Strukturen, nicht um individuelle Moral“ und dann im nächsten Atemzug Personen moralisch über ihre Kategorie einsortieren. Das ist nicht nur ungerecht – es ist auch logisch unsauber. Und logische Unsauberkeit ist in Debatten das, was später als emotionale Gewalt zurückkommt.

Wenn mich also ein Titel reizt, ist das oft kein „Ich will mich rauswinden“, sondern ein Alarm: Achtung, hier könnte ein Systembegriff in eine Personenzuschreibung kippen.

Das ist der Punkt, an dem sich viele Gespräche über Feminismus verhärten. Nicht, weil Menschen Strukturkritik nicht ertragen, sondern weil sie nicht wissen, wie sie Strukturkritik lesen sollen, ohne sich als Person ausgelöscht zu fühlen.

Und genau hier wird’s philosophisch: Wie liest man einen Satz, der über die Welt spricht, ohne ihn als Satz über sich zu nehmen?

Oder anders: Wie bleibt man adressierbar, ohne sich angeklagt zu fühlen?

3. Die Ethik des Fokus: Warum „nur“ ein Fokus nie nur Fokus ist

Natürlich ist ein Fokus legitim. Nicht jedes Buch muss alle Perspektiven symmetrisch behandeln. Ein Brennglas ist kein Atlas.

Aber Fokus ist nicht neutral. Fokus ist eine Entscheidung darüber, wessen Erfahrung als exemplarisch gilt – und wessen Erfahrung in diesem Moment als „Nebenkriegsschauplatz“ behandelt werden darf.

Das Problem entsteht dort, wo ein Fokus im Diskurs nicht als Fokus gelesen wird, sondern als Grenzziehung: Das hier zählt. Das andere ist Ablenkung. Und wenn die typische Anschlussfrage („Und was ist mit den Männern?“) automatisch als Störung gilt, dann wird aus einem Fokus eine Gesprächsregel, die sagt: Du darfst anwesend sein, aber bitte nicht sprechen, jedenfalls nicht über dich.

Hier berühren sich meine beiden vorherigen Texte: In „Verantwortung ohne Resonanz“ ging es um diese seltsame Lage, dass Männer zwar Verantwortung übernehmen sollen, aber die eigene Erschöpfung nicht als legitimen Gegenstand in den Raum legen dürfen, ohne dass sofort der Verdacht mitschwingt: Relativierung. Narzissmus. Abwehr.

Und das ist der Moment, in dem ein feministischer Fokus – vollkommen unbeabsichtigt – zu einer asymmetrischen Anerkennungsordnung werden kann:

Frauen dürfen erschöpft sein, und es hat Bedeutung.

Männer sind erschöpft, und es hat Verdacht.

Ich schreibe das nicht, um eine Gleichheitsbilanz aufzumachen. Nicht „wir auch!“. Sondern um auf eine kommunikative Physik hinzuweisen: Anerkennung ist nicht nur ein moralischer Akt, sie ist auch ein sozialer Klebstoff. Wenn Anerkennung ungleich verteilt wird, entsteht nicht automatisch Gerechtigkeit – manchmal entsteht erst einmal Trotz. Und Trotz ist politisch unerquicklich, aber psychologisch verständlich.

Wenn ich also beim Titel „Erschöpfung der Frauen“ kurz ärgerlich werde, ist das auch die Reibung zwischen zwei Anerkennungssystemen:

dem feministischen Versuch, weibliche Last sichtbar zu machen,

und dem männlichen Bedürfnis, nicht nur als Problemrahmen aufzutauchen.

Beides kann gleichzeitig wahr sein, ohne dass eins das andere zerstört. Aber es verlangt eine seltene Fähigkeit: Mehrspurigkeit.

4. Mehrspurigkeit: Zwei Wahrheiten, die sich gegenseitig nicht annulieren

Ich glaube, ein großer Teil der gegenwärtigen Diskurserschöpfung entsteht, weil wir ständig versuchen, eine Wahrheit zu gewinnen, indem wir eine andere aus dem Raum drücken.

Dabei gibt es Themen, die sind nicht „entweder/oder“, sondern „sowohl/als auch“. Und Erschöpfung ist so ein Thema.

Wahrheit A: Es gibt strukturelle Muster, die Frauen überlasten – historisch, ökonomisch, kulturell. Care-Arbeit, mentale Last, emotionale Zuständigkeit, Körperpolitik, sexualisierte Erwartungen. Das ist real.

Wahrheit B: Es gibt Männer, die nicht dominieren wollen, die sich um Fairness bemühen, die selbst belastet sind – und die in Debatten oft so behandelt werden, als sei ihr Sprechen per se verdächtig.

Wenn man Wahrheit A betont, ohne Wahrheit B überhaupt als legitime Erfahrung anzuerkennen, wirkt es wie moralische Einbahnstraße.

Wenn man Wahrheit B betont, um Wahrheit A zu entwerten, wirkt es wie Abwehr.

Beides führt zu dem, was ich „immunisierende Debatte“ nennen würde: Jede Reaktion gilt nur noch als Beweis des Vorwurfs.

Mehrspurigkeit wäre etwas anderes: nicht „Gleichstand“, sondern Gleichzeitigkeit. Ein Denken, das Unterschiede anerkennt, ohne Menschen zu entmündigen.

Und jetzt kommt der entscheidende Schritt: Wie lese ich Schutzbach in dieser Mehrspurigkeit?

5. Die Übersetzung, die mir hilft: Vom Personenschatten zur Systemfrage

Ich kann den Titel auf zwei Arten lesen.

Lesart 1 (schnell, reflexhaft): „Die Frauen sind erschöpft, weil Männer …“

Das ist die Lesart, die mein Ärger triggert, weil sie mich als Schattenfigur in einen moralischen Plot setzt.

Lesart 2 (bewusst, systemisch): „Frauen werden in vielen Kontexten so sozial adressiert, dass Verfügbarkeit von ihnen erwartet wird – und diese Erwartung produziert Erschöpfung.“

Hier verschwindet nicht die Frage nach Verantwortung, aber sie verändert ihre Form: Weg von „Wer ist schuld?“ hin zu „Welche Mechanismen wirken?“

Diese Übersetzung ist kein Trick, sondern eine Disziplin. Und sie ist für mich als AuDHS-Person besonders wichtig, weil mein Gehirn dazu neigt, Sprache wörtlich und persönlich zu nehmen, wenn sie kategorisch klingt. Die bewusste Übersetzung ist meine Art, mir selbst eine zweite Lesespur zu eröffnen.

In dieser zweiten Spur kann ich Schutzbach als Diagnose lesen – nicht als Anklage.

Als Karte – nicht als Urteil.

Als Spiegel für Erwartungen – nicht als Steckbrief für Menschen.

Und plötzlich taucht auch eine andere Rolle für mich auf: nicht Angeklagter, sondern Mitgestalter. Nicht der „Täter“, der sich verteidigen muss, sondern der Beteiligte, der mitdenken kann: Wo reproduziere ich Verfügbarkeit? Wo profitiere ich von ihr? Wo kann ich sie aktiv abbauen?

Das ist unbequem, ja. Aber es ist ein anderes Unbequemsein: nicht das der Beschämung, sondern das der Verantwortung, die handhabbar wird.

6. Was diese Trilogie eigentlich zusammenhält

Wenn ich meine drei Texte als Block lese, merke ich: Es ist ein einziger roter Faden, nur aus drei Blickwinkeln:

  1. Begriffe müssen sauber bleiben, sonst werden Menschen zu Stellvertretern („Macht“ ist nicht „Schuld“, „Struktur“ ist nicht „Charakter“).
  2. Verantwortung braucht Resonanz, sonst wird sie zur moralischen Pflicht ohne psychischen Boden.
  3. Fokus braucht Übersetzung, sonst wird er als persönliche Anklage gehört und als Gesprächsabbruch erlebt.

Diese drei Punkte sind keine „Männer-Position“. Sie sind Diskurs-Hygiene. Sie sind, wenn man so will, eine kleine Ethik des Sprechens über Ungleichheit: Damit Strukturkritik nicht zu einem neuen Dogma wird, und damit individuelle Lernfähigkeit nicht unter Kategorielogik begraben wird.

Und hier ist vielleicht die paradoxeste Einsicht: Ich kann Schutzbachs Fokus gerade dann ernst nehmen, wenn ich meine eigene Reaktion ernst nehme – nicht als Gegenargument, sondern als Hinweis darauf, wie Sprache in sozialen Räumen wirkt.

Denn es reicht nicht, Recht zu haben. Man muss auch so sprechen, dass Recht nicht in ein Ritual der Entmenschlichung kippt.

7. Ein Schluss, der kein Schluss ist: Wofür ich mich entscheiden will

Ich werde diesen Ärger nicht dadurch los, dass ich mich selbst belehre („stell dich nicht so an“). Und ich will ihn auch nicht kultivieren („aha, da ist die feministische Anklage wieder“). Ich will ihn verwenden.

Als Signal, dass ich an einer Grenze stehe: zwischen dem Bedürfnis nach individueller Fairness und der Notwendigkeit struktureller Wahrnehmung. Zwischen dem Wunsch, als Person gesehen zu werden, und der Tatsache, dass Kategorien politisch wirksam sind. Zwischen dem Impuls, mich zu verteidigen, und der Chance, genauer zu verstehen.

Vielleicht ist das die erwachsene Variante dieser Situation: nicht Rechthaben, sondern Lesefähigkeit.

Wenn ich Schutzbach so lese, dass „weibliche Verfügbarkeit“ nicht „männliche Bosheit“ bedeutet, sondern Erwartungsarrangements, dann kann ich das Buch als Einladung nehmen, genauer hinzusehen: Wo ist Verfügbarkeit in meinem Leben eingepreist? Wer hat die unsichtbare Nachtwache? Wer hält die Beziehung am Laufen, die Stimmung, den Kalender, die Übergänge?

Und gleichzeitig werde ich darauf bestehen, dass Gespräche besser werden, wenn sie die Differenz aushalten, die ich in meinen vorherigen Texten herausgearbeitet habe: Identität ist nicht Verhalten. Verantwortung ist nicht Schuld.

Wenn der Diskurs das aushält, dann wird aus einem provokanten Titel nicht automatisch Zustimmung – aber vielleicht etwas Wertvolleres: eine präzise Auseinandersetzung, die Menschen nicht als Kategorien verschleißt.

Das wäre, am Ende, auch eine Form von Widerstand gegen Verfügbarkeit: nicht nur gegen weibliche Verfügbarkeit als Ausbeutungsform, sondern gegen die Verfügbarkeit von Menschen als Schablonen im Diskurs.

Denn vielleicht ist das die tiefste Erschöpfungsquelle unserer Zeit: dass wir uns gegenseitig nicht mehr als Personen begegnen, sondern als Funktionen in einem Streit.

Und dass wir dabei vergessen, dass Denken – gutes Denken – immer auch Fürsorge ist: für Begriffe, für Menschen, für die Möglichkeit, gemeinsam etwas zu verändern.

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