Auf vier Jungen kommt heute ein Mädchen, das mit ADHS diagnostiziert wird. Und das, obwohl ADHS bei beiden Geschlechtern ungefähr gleich häufig vorkommt. Die Diskrepanz entsteht nicht durch Biologie – sondern durch unterschiedliche Symptome, gesellschaftliche Erwartungen und jahrzehntelanges Missverstehen.
Während Jungen häufig durch äußere Hyperaktivität auffallen (der berühmte „Zappelphilipp“), zeigt sich ADHS bei vielen Mädchen eher nach innen gerichtet: als Tagträumen, innere Unruhe, Überempfindlichkeit, Selbstzweifel, Impulskontrolle-Probleme oder stille Überforderung. Das macht sie im Alltag „unauffällig“ – aber nicht unbelastet.
Die hohe Kunst des Kompensierens – und ihr Preis
Viele Frauen mit ADHS berichten dieselbe Lebensgeschichte:
„Irgendwie habe ich alles hinbekommen.“
Schule. Studium. Job.
Alles irgendwie. Aber selten gut und nie leicht.
Über Jahre entwickeln sie komplexe Strategien, um ihre Unsicherheiten zu überdecken: Perfektionismus, Anpassung, übermäßiges Verantwortungsgefühl, soziale Intuition. Gesellschaftlich wird ihnen das sogar anerzogen: „Sei brav. Sei höflich. Stör nicht.“
Das führt dazu, dass viele Frauen nicht auffallen – und deshalb durch jede Diagnostik fallen, die auf den „typischen“ (männlichen) ADHS-Prototypen geeicht ist.
„Sie haben ja studiert – Sie können kein ADHS haben.“
Ein Satz, den erschreckend viele Betroffene hören.
Warum ADHS oft erst im Erwachsenenalter sichtbar wird
ADHS verschwindet nicht. Es passt sich an. Und es fliegt unter dem Radar – bis das Leben es nicht mehr zulässt.
Typische Auslöser:
- hormonelle Veränderungen (Geburt eines Kindes, Wechseljahre)
- Jobwechsel, Führungsdruck, berufliche Instabilität
- Trennungen oder belastende Lebenssituationen
- fehlende eigene Struktur, wenn äußere Vorgaben wegfallen
- oder schlicht: Erschöpfung der Kompensationsmechanismen
Dann bricht das System, das jahrelang alles zusammengehalten hat – und plötzlich wird sichtbar, was die ganze Zeit da war.
Wenn die Welt lauter wird – und die Strategien nicht mehr reichen
Kommt ein Kind ins Leben, verändert sich alles: Schlaf, Routinen, Bedürfnisse, Selbstbestimmung. ADHS-Betroffene verlieren dann oft die letzten Elemente der Struktur, die sie getragen haben.
Plötzlich wirkt alles wie zu viel.
Plötzlich brennt man aus.
Plötzlich ist man fremdbestimmt.
Die Symptome treten nun ungeschminkt zutage.
Die unsichtbare Belastung: Was unbehandeltes ADHS bei Frauen anrichten kann
Unbehandelte erwachsene ADHS zeigt ein breites Spektrum:
- Konzentrationsschwierigkeiten
- innere Unruhe und mentaler Overload
- Hypersensibilität
- Selbstzweifel, Perfektionismus, Prokrastination
- emotionale Impulsivität
Die Folgen können gravierend sein:
- Depressionen
- Angststörungen
- Suchtgefährdung
- Probleme im Job
- Schwierigkeiten in Beziehungen
- chronische Überforderung und Erschöpfung
Viele Frauen beschreiben es so:
„Ich dachte mein ganzes Leben, mit mir stimmt etwas nicht – aber ich wusste nicht, was.“
Warum eine Diagnose das Leben verändern kann
Nicht, weil sie das Leben „leichter“ macht. Sondern weil sie das Leben verständlich macht.
Frauen mit spät erkannter ADHS berichten oft:
- Das erste Mal fühlen sie sich nicht mehr defekt, sondern normal anders.
- Sie verstehen ihre Vergangenheit neu: Entscheidungen, Abbrüche, Krisen.
- Sie erleben Entlastung und Selbstmitgefühl.
- Sie erkennen, welche Strategien ihnen wirklich helfen – und welche sie nur erschöpfen.
Eine Diagnose ist kein Etikett. Sie ist ein Werkzeug.
Und oft die erste ehrliche Chance, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Fazit
ADHS bei Frauen ist selten laut.
Meist ist es leise, angepasst, erschöpft – und unsichtbar.
Die Betroffenen sind nicht „weniger ADHS“.
Sie sind einfach besser im Tarnen. Zu gut. Oft zu lange.
Es ist Zeit, dass wir das Muster erkennen.
Leise ist nicht leicht.
Angepasst ist nicht symptomfrei.
Und Kompensation ist keine Heilung.