Ich schreibe das hier, weil ich glaube, dass wir in unserer Kultur einer gefährlichen Vereinfachung unterliegen, die mich als Mann und Töchterpapa stört: Lust bei Frauen gilt häufig noch als Randthema – als „nice to have“, nicht als Grundbedürfnis. Und genau das möchte ich hinterfragen.
Dianne de la Cruz – eine Stimme der Selbstbestimmung
Dianne de la Cruz ist Therapeutin und Autorin, die sich mit Fragen weiblicher Sexualität, Scham und Selbstbestimmung beschäftigt. In ihren Interviews und Vorträgen beschreibt sie Sexualität als Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Ihr zentraler Gedanke: „Lust ist kein Luxus. Sie ist Teil von Würde und Selbstbestimmung.“
Damit steht sie für eine Haltung, die sich gegen die jahrhundertealte Entwertung weiblicher Lust richtet. Sie zeigt, dass Sexualität nicht nur privat, sondern zutiefst politisch ist – weil sie entscheidet, wie frei ein Mensch sich in seinem Körper fühlen darf.
1. Kindheit und Körpererfahrung
Es beginnt früh.
Während Jungen lernen, ihren Körper selbstverständlich zu berühren – schon weil sie im Stehen urinieren –, hören Mädchen sehr früh: „Finger weg!“ oder „Schäm dich!“
Neurowissenschaften zeigen, dass im Gehirn sogenannte „Gefühlslandkarten“ entstehen: Körperstellen, die regelmäßig berührt und wahrgenommen werden, sind dort stärker vertreten. Wenn Mädchen diese Erfahrung nicht machen dürfen, entsteht eine Distanz – nicht nur körperlich, sondern auch emotional.
Das Ergebnis: Viele Frauen erleben ihren Körper später als etwas, das von außen gesehen wird, nicht als etwas, das sie von innen spüren.
2. Das Doppelmoral-Dilemma
Gesellschaftliche Erwartungen verstärken diese Entfremdung:
Frauen sollen begehrenswert sein, aber nicht zu sehr; sinnlich, aber bitte nicht selbstbestimmt; attraktiv, aber bloß nicht „feministisch“.
Dieses Spiel der Gegensätze erzeugt eine permanente Spannung. Wer Lust zeigt, riskiert Kritik. Wer sie unterdrückt, verliert sich selbst.
Selbst Dianne de la Cruz beschreibt, wie tief diese Prägungen reichen:
„Ich dachte einmal: Zum Glück keine Tochter – sie würde im Sommer fast nackt herumlaufen. Und dann erkannte ich, wie absurd dieser Gedanke ist: Warum sollte sie sich anziehen müssen, damit Männer nicht reagieren? Eigentlich müsste es genau andersherum sein.“
3. Lust als Akt der Selbstbestimmung
Sexuelle Selbstbestimmung ist mehr als Intimität – sie ist politisch.
Das Patriarchat hat seine Finger tief in diesem Thema. Eine Frau, die ihre Lust kennt und lebt, stellt bestehende Machtordnungen infrage. Sie sagt:
„Ich bin nicht hier, um jemandem zu gefallen. Ich bin hier, um meine Sexualität für mich zu leben.“
Lust ist keine Laune, kein Luxus und kein Bonus.
Sie ist Ausdruck eines selbstbestimmten Bewusstseins – einer Beziehung zu sich selbst, die Würde, Neugier und Präsenz einschließt.
4. Wahrnehmung beginnt mit Erlaubnis
Wahrnehmung entsteht durch Erlaubnis.
Nur wer sich erlaubt, den eigenen Körper zu spüren, kann ihn wirklich wahrnehmen. Das gilt für alle Menschen, aber bei Frauen wurde genau diese Erlaubnis über Generationen hinweg systematisch entzogen.
Berührung, Neugier und Selbstkontakt sind keine Nebensachen – sie sind die Grundlage jeder gesunden Selbstwahrnehmung.
Wenn Frauen wieder lernen, sich selbst zuzuhören, sich zu spüren und sich zu erlauben, Lust zu empfinden, entsteht etwas Neues: ein selbstbewusstes Verhältnis zum eigenen Körper jenseits von Bewertung und Scham.
5. Lust als Würde
Lust ist kein Luxus.
Sie ist ein Menschenrecht.
Sie ist die leise, aber entschlossene Stimme des Körpers, die sagt: „Ich lebe.“
Wenn Frauen ihre Lust wieder als Teil ihrer Würde verstehen, verändert das nicht nur ihre Sexualität – es verändert ihre Haltung zum Leben selbst.
Fazit
Weibliche Lust ist kein privates Detail, sondern ein gesellschaftlicher Kompass.
Eine Kultur, die Frauen lehrt, sich für ihren Körper zu schämen, verhindert Selbstbestimmung und untergräbt Würde.
Eine Kultur aber, die weibliche Lust achtet, erkennt:
Wahrnehmung beginnt mit Erlaubnis – und Selbstbestimmung beginnt mit Berührung.
Lust ist kein Luxus. Sie ist Teil von Würde und Selbstbestimmung. – Dianne de la Cruz