Top

Zwischen Mindestlohn und Zukunft: Wie KI das Bild des Friseurhandwerks verändert

0:00 / 0:00

Wie mediale Symbolik das Friseurhandwerk klein hielt – und warum sich das jetzt verändert

Wann immer in deutschen Nachrichtensendungen über den Mindestlohn berichtet wird, scheint ein bestimmtes Bild fast unvermeidlich: Eine Frau mit Föhn in der Hand, aufgenommen in einem Friseursalon.

Dieses Bild ist längst mehr als eine redaktionelle Routine. Es ist ein kulturelles Symbol geworden – eines, das über Jahrzehnte hinweg das öffentliche und innere Selbstbild einer ganzen Berufsgruppe geformt hat.

Der Friseurberuf – Symbol für Leidenschaft und Preisdruck

Kaum ein anderes Handwerk in Deutschland steht so exemplarisch für hohe emotionale Kompetenz bei niedriger Entlohnung wie das Friseurhandwerk.

Friseurinnen und Friseure gestalten nicht nur Haare, sondern auch Selbstbilder – und tragen soziale Verantwortung, die weit über das rein Handwerkliche hinausgeht. Trotzdem rangierte der durchschnittliche Lohn im Friseurhandwerk noch 2024 im unteren Bereich der deutschen Handwerksberufe.

Der Medianverdienst lag zuletzt bei rund 1.800 bis 1.900 Euro brutto im Monat bei Vollzeit. Selbst wenn viele Betriebe inzwischen über Tarif bezahlen, bleibt die Branche von Preis- und Wettbewerbsdruck geprägt.

Diese Schieflage hat historische Gründe: Jahrzehntelang galt das Friseurhandwerk als Beruf, der „aus Liebe zum Menschen“ betrieben wird – eine Haltung, die gesellschaftlich romantisiert, aber ökonomisch ausgehöhlt wurde.

Das kollektive Selbstbild: freundlich, bescheiden, aber unter Wert

Diese dauerhafte Unterbewertung hat nicht nur Strukturen geschaffen, sondern auch Denkweisen.

Viele Friseurinnen und Friseure entwickelten ein Selbstbild, das auf Bescheidenheit und Kundentreue beruhte, nicht auf Selbstbewusstsein und Preiswürdigkeit.

Das führte dazu, dass Preiserhöhungen oft als moralisches Risiko empfunden wurden – selbst wenn sie wirtschaftlich notwendig waren.

„Wir wollen schön machen, auch wenn wir selbst uns das Leben kaum leisten können.“

Diese Haltung wurde durch mediale Bilder verstärkt, die Friseurinnen fast immer als Beispiel für Geringverdienerinnen zeigen. So entstand eine stille kulturelle Gewohnheit, die bis heute wirkt.

Wandel durch Krise, KI und neue Generationen

Doch diese Gewohnheit beginnt sich zu lösen. Die Jahre nach Corona haben nicht nur wirtschaftliche Brüche, sondern auch mentale Brüche erzeugt.

Die Zahl der Auszubildenden im Friseurhandwerk ist in den letzten 15 Jahren dramatisch gesunken – von über 40.000 auf weniger als 14.000. Das zeigt, wie viele junge Menschen den Beruf nicht mehr als zukunftssicher wahrnahmen.

Gleichzeitig aber verändert sich die Zusammensetzung dieser kleineren Gruppe deutlich:

Der Anteil der Männer ist von etwa 10 Prozent auf rund 30 Prozent gestiegen.

Diese Verschiebung fällt in eine Zeit, in der die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz viele Berufsbilder infrage stellt.

Doch gerade das Friseurhandwerk steht in dieser neuen Welt ungewöhnlich stabil da.

Denn alles, was KI besser kann als der Mensch – Berechnen, Planen, Prognostizieren – ersetzt genau jene Fähigkeiten, auf denen die meisten Bürojobs beruhen.

Was KI nicht kann, ist echter zwischenmenschlicher Kontakt, kreative Gestaltung in Echtzeit und das intuitive Gespür für Persönlichkeit und Stil.

Friseurinnen und Friseure verkörpern damit etwas, das in der KI-Gesellschaft immer kostbarer wird: menschliche Präsenz, Berührung und Individualität.

So zeigt sich in der paradoxen Logik des Fortschritts:

Ausgerechnet der Beruf, der lange als „einfach“ und „niedrig bezahlt“ galt, ist einer der wenigen, die sich nicht automatisieren lassen – und damit einer der zukunftssichersten Handwerksberufe überhaupt.

Tarifverträge, Transparenz und ein neues Selbstverständnis

Auch strukturell verändert sich etwas: Neue Tarifabschlüsse heben den branchenspezifischen Mindestlohn schrittweise an – in einigen Regionen bereits auf über 12 Euro pro Stunde, mit höheren Einstufungen für erfahrene Fachkräfte.

Das ist keine Revolution, aber ein Signal: Das Friseurhandwerk beginnt, sich neu zu positionieren – zwischen künstlerischer Arbeit, digitaler Sichtbarkeit und professioneller Dienstleistung.

Mit dieser Neuorientierung geht auch ein verändertes Selbstverständnis einher.

Wo früher Anpassung galt, entsteht heute Anspruch.

Wo früher Preisangst herrschte, wächst das Bewusstsein, dass Qualität ihren Wert haben darf.

Und wo früher Unsicherheit über die Zukunft herrschte, wächst jetzt das Vertrauen in eine Fähigkeit, die keine Maschine ersetzen kann: Menschen schöner zu machen, indem man sie sieht.

Was bleiben wird – und was sich ändern muss

Die aktuelle Entwicklung zeigt zwei gegensätzliche Kräfte:

Einerseits kämpfen viele kleine Salons ums Überleben, weil sie zwischen steigenden Kosten und preissensibler Kundschaft gefangen sind.

Andererseits wächst eine Generation heran, die nicht mehr bereit ist, den alten Mythos der „bescheidenen Schönheitsschaffenden“ fortzuführen.

Um diesen Wandel zu stabilisieren, braucht es:

  • Transparente Preisgestaltung, die den Wert von Handwerk sichtbar macht,
  • Ausbildungsförderung, um junge Talente im Beruf zu halten,
  • und eine gesellschaftliche Neubewertung, die Friseurinnen und Friseure als Gestalter von Identität und Selbstwahrnehmung begreift.

Fazit: Wenn der Föhn das Denken verändert

Das Bild der Frau mit dem Föhn in der Hand hat den Diskurs über Löhne in Deutschland über Jahrzehnte geprägt. Es war ein Sinnbild für Fleiß ohne finanzielle Anerkennung.

Doch langsam, mit neuen Generationen, neuen Tarifverträgen, der Erfahrung durch Corona – und dem Aufstieg von KI – beginnt sich dieses Bild zu verändern.

Denn wer in Zukunft mit den Händen arbeitet, mit Blick, Stimme und Einfühlungsvermögen, wird nicht durch Algorithmen ersetzt.

Sondern er bleibt der Ort, an dem das Menschliche weiterlebt.

Vielleicht wird in einigen Jahren, wenn wieder über den Mindestlohn berichtet wird, nicht mehr der Friseursalon als Symbolbild dienen.

Sondern das eines Menschen, der weiß, dass seine Arbeit mehr wert ist –

weil sie etwas kann, das keine Maschine je lernen wird: den Menschen sehen.