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ADHHHS – Kapitel 1 v1.1

Mein Name ist Benjamin. Oder Dr. Benjamin Erhardt. Oder bezoo. Oder eben Dr. ADHS.

Als ich begann, dieses Buch zu schreiben, wurde mir klar, dass ich in gewisser Weise schon einmal zuvor damit angefangen hatte – ohne es damals zu wissen. Das war zu der Zeit, als unsere erste Tochter geboren wurde und ich meine persönliche Webseite neu gestaltete. Das Leitmotiv dieser Seite lautete damals: 

„Der Weg ist das Ziel? 

Unsinn.
Ganz oder gar nicht.
Das Ziel ist das Ziel!“

Dieses Mantra, das ich damals hatte, entdeckte ich erst, als ich den Text wiederfand, an den ich mich ursprünglich erinnert hatte, als die Gedanken zu diesem Buch gereift waren. Es war jener Text, in dem ich versucht habe, mich selbst und meine Motive so ehrlich und authentisch wie möglich zu beschreiben.

Es illustriert den Grundirrtum der ersten vier Jahrzehnte meines Lebens. Heute habe ich verstanden, dass ich einfach nur nie begreifen konnte, weshalb der Weg zugleich auch das Ziel sein kann. Ich glaube, der erste Schritt war die Erkenntnis, dass das Ziel des Lebens aus einer Vielzahl individueller Ziele besteht, die wiederum – neben den eigenen Werten – die Identität und damit den Sinn des eigenen Lebens ausmachen.

Und sachlogisch wurde mir dann schnell klar, dass, wenn ich mich auf dem Weg befinde, meine Ziele zu erreichen oder bereits erreichte Ziele zu bewahren, das Ziel eben auch gleichzeitig der Weg ist.

Aber vom tiefen Empfinden her hat es von dieser logischen Erkenntnis an noch bis zu dem Zeitpunkt gedauert, als meine jüngere Tochter knapp vier Jahre alt war. Erst dann, als ich mit beiden gemeinsam Zeit verbrachte und Planungen innerhalb von Minuten umgeworfen wurden, verstand ich auch emotional, dass der Weg selbst das Ziel ist – unabhängig davon, ob man vermeintlich relevante kleine Ziele erreicht oder nicht.

Dies ist der Text, den ich damals verfasst habe, um mich selbst zu beschreiben:

„Ich mag keine leeren Texte!

Daher möchte ich Dir einen klassischen Einleitungstext ersparen. Vielmehr möchte ich eine Passage aus Thomas Manns Tonio Kröger zitieren, die mich teilweise so beschreibt, wie ich bin, teilweise, wie ich sein möchte, und teilweise, wie ich nicht enden will:

Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im übrigen grau und unauffällig umhergeht, wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat. Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar und voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich waren, wild und abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten Luxus trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu leben bedacht waren, unwissend darüber, daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein.“

Ich schrieb damals: „Ich mag keine leeren Worte.“ Das war mehr als nur eine Floskel. Es war mein Bekenntnis dazu, dass ich es kaum ertrage, wenn Sprache nichts trägt, wenn sie bloßes Ornament oder höfliche Fassade ist. Für mich musste jedes Wort Gewicht haben, Bedeutung, Wahrheit. Worte waren immer mehr als Kommunikation – sie waren Selbstbeschreibung, Bekenntnis, manchmal auch Waffe. Vielleicht deshalb konnte ich mich nicht mit einer konventionellen Einleitung zufriedengeben, sondern griff zu einem Zitat, das zugleich Spiegel, Sehnsucht und Warnung war.

Als ich diese Passage aus Tonio Kröger wählte, wusste ich sofort, warum sie mich so sehr berührte. Sie spiegelte mein eigenes Empfinden – und zugleich meine Ängste, wie ich nicht enden wollte.

„Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will als arbeiten …“

Genau so fühlte es sich für mich oft an. Ich konnte kaum ertragen, einfach nur zu sein, ohne zugleich etwas zu schaffen. Meine Existenzberechtigung lag für lange Zeit allein im Tun.

„… weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht …“

Dieser Satz sprach aus, was ich selbst kaum zugeben wollte: dass ich mein Menschsein abwertete, wenn es nicht mit Leistung verbunden war. Dass ich glaubte, nur durch Ergebnisse und Werke gesehen zu werden.

„… und im übrigen grau und unauffällig umhergeht, wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat.“

Wie oft habe ich diese Leere gespürt – das Unsichtbarsein nach dem Auftritt, das Versinken im Alltag, sobald das Feuer der Darstellung verlosch.

„Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar …“

Auch das war ich. Arbeit als Rückzug, als Schutz, als Bollwerk gegen eine Welt, die mir zu widersprüchlich, zu laut, zu chaotisch erschien.

„… voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war …“

Ich gestehe: manchmal war da auch dieser bittere Blick auf die Leichtigkeit der anderen. Auf jene, die ihr Talent mit Charme und Geselligkeit trugen, während ich in Schwere und Ernsthaftigkeit versank.

„… unwissend darüber, daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen …“

Ob das wirklich so ist, weiß ich bis heute nicht. Doch ich spürte damals, dass mein inneres Getriebensein, meine Unruhe, mein Leiden immer wieder die Quelle für das war, was ich hervorbrachte.

„… daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein.“

Dieser letzte Satz erschreckte mich am meisten. Er war Mahnung und Verlockung zugleich. Ich wollte nicht so werden – nicht das Leben aufgeben, um nur noch Schaffender zu sein. Und doch spürte ich, wie nah ich diesem Abgrund schon war.

Darum wählte ich dieses Zitat. Es war Spiegel, Warnung und Selbstbeschreibung in einem. Es zeigte mir, wo ich mich befand, welche Spannungen mein Leben prägten – und warum mir die Welt um mich herum oft wie ein wildes Absurdistan erschien: voller Brüche, voller Unstimmigkeiten, voller Absurditäten, die ich nicht ignorieren konnte.

Daran anschließend schrieb ich den Abschnitt „Leitmotive – Woran ich glaube“. 

Dieser Abschnitt beinhaltete eine Sammlung von 6 Zitaten in folgender Reihenfolge:

  1. Thomas Mann:
    „Er fand viel lieber, als daß er erfand.“
  2. Oscar Wilde:
    „I’m a man of simple tastes. I’m always satisfied with the best.“
  3. Stephen Covey:
    „Effective leadership is putting first things first. Effective management is discipline, carrying it out.“
  4. Godfrey Harold Hardy:
    „Beauty is the first test: there is no permanent place in the world for ugly mathematics.“
  5. Albert Schweitzer:
    „Mich interessiert vor allem die Zukunft, denn das ist die Zeit, in der ich leben werde.“
  6. Augustinus von Hippo:
    „Nur wer selbst brennt, kann auch andere anstecken.“

Und wieder möchte ich im Einzelnen versuchen, meine Gedanken bei dieser Auswahl nachzuvollziehen.

„Er fand viel lieber, als daß er erfand.”

Dieses Mann-Wort beschreibt mein Arbeiten präzise: Ich erfinde selten am Reißbrett, ich finde Strukturen, die schon im Stoff angelegt sind. Mein netzwerkartiges Denken legt verborgene Muster frei; die Idee zum tickenden Preissystem war genau so ein Fund: plötzlich vollständig da, inklusive Oberfläche. Auch als Vater versuche ich zu finden, was in meinen Kindern bereits angelegt ist – nicht es ihnen aufzupressen. Für mich ist Finden Demut vor der Wirklichkeit: Ich ordne, was ist, statt künstlich zu fabrizieren.

“I’m a man of simple tastes. I’m always satisfied with the best.”

„Einfach“ heißt für mich nicht „viel“ oder „billig“, sondern reizarm und hochwertig – ein Schutz für Hypersensibilität und ADHS. Ich reduziere Kanäle, wähle wenige, dafür exzellente Werkzeuge, klare Texte, saubere Modelle. Qualität beruhigt mein Nervensystem, Mittelmaß erzeugt Rauschen. Das ist kein Snobismus, sondern Hygiene: Wenige Signale, hohe Güte, damit ich denken kann.

“Effective leadership is putting first things first. Effective management is discipline, carrying it out.”

Mein Dauerkonflikt: Vision vs. Umsetzung. ADHS beschleunigt Einsicht, erschwert Priorisierung. „First things first“ zwingt mich, den Tag um Familie, Gesundheit und Kernarbeit zu bauen – vor Mails, Meetings, Mikrodringlichkeiten. Disziplin heißt für mich: Gedanken externalisieren, Impulse parken, Entscheidungen in Reihenfolge zwingen. Führung: das Richtige wählen. Management: es konsequent tun – auch wenn mein Kopf schon drei Schritte weiter ist.

“Beauty is the first test: there is no permanent place in the world for ugly mathematics.”

Schönheit ist für mich ein Wahrheitskriterium. Wenn ein Modell elegant ist, stimmen meist Symmetrie, Sparsamkeit, Erklärungskraft. Mein inneres Störgefühl bei logischen Lücken ist letztlich ein ästhetischer Sensor. Deshalb skizziere ich Strukturen visuell: Schönheit macht Kohärenz sichtbar und kommunizierbar. Unschöne Theorie überlebt bei mir selten – sie zerfällt an der Wirklichkeit oder an meinem Bedarf nach Stimmigkeit.

„Mich interessiert vor allem die Zukunft, denn das ist die Zeit, in der ich leben werde.“

Ich denke vorwärts: KI-Entwicklung als späte Leidenschaft, Portfolios statt Monokulturen, Schule als Auftrag, Neurodiversität endlich passend zu fördern. Zukunft ist für mich kein Fluchtpunkt, sondern Arbeitsauftrag: Systeme bauen, die meiner Art zu denken gerecht werden – und den Kindern eine Umgebung, in der Unterforderung nicht zur stillen Verwundung wird. Der Weg-ist-Ziel-Gedanke bekam so Bodenhaftung: Zukunft gestalten heißt Gegenwart sinnvoll ordnen.

„Nur wer selbst brennt, kann auch andere anstecken.”

Mein Brennen ist real: Hyperfokus, Nächte, Ideenfeuerwerk. Es inspiriert Teams, Schüler, Klienten – wenn ich die Flamme führe. Ungelenkt verbrennt sie mich und andere; gelenkt wärmt sie. Darum brauche ich Rituale und Pausen, klare Grenzen und ehrliche Nähe: in der Familie, damit Intensität nicht überrollt; im Beruf, damit Dringlichkeit nicht mit Wichtigkeit verwechselt wird. Anstecken, ohne zu verbrennen – das ist die tägliche Kunst.

Einstellung – meine Prioritäten im Leben

Statistiker mögen Zahlen und Diagramme. Vielleicht rührt es daher, dass auch meine Selbstbeschreibung am Ende in Form von Balken sichtbar wird. Worte sind für mich nie nur Schmuck, sondern Werkzeuge der Klarheit. Und manchmal braucht es Zahlen, um das auszudrücken, was in Prosa zu verschwimmen droht.

Familie & Freunde – 100 %

Dinge entwickeln – 95 %

Ziele erreichen – 90 %

Langeweile vermeiden – 85 %

Fitness – 75 %

Schlaf – 40 %

Alltag – 20 %

Legende 0–100 %: Egal – Erforderlich – Wichtig – Entscheidend.

Diese Aufstellung wirkt nüchtern, fast schematisch, und doch erzählt sie viel über mich. An erster Stelle steht unangefochten meine Familie, gemeinsam mit den wenigen Freunden, die mich in meinem Anderssein nicht nur aushalten, sondern annehmen. Dicht dahinter mein Drang, Dinge zu entwickeln, Strukturen zu schaffen, Ideen in Formen zu bringen. Ziele zu erreichen ist für mich weniger Selbstzweck als inneres Bedürfnis nach Kohärenz – ein Weg, den Unruhen meiner Gedanken Richtung zu geben. Langeweile hingegen empfinde ich als Bedrohung: Sie raubt mir Energie, wo Herausforderungen mich nähren.

Fitness taucht auf, weil mein Körper das Fundament für all dies ist, auch wenn ich ihn zu oft vernachlässige. Schlaf bleibt auf einem viel zu niedrigen Niveau, nicht aus Geringschätzung, sondern aus innerer Unruhe: Mein Kopf schaltet selten ab, selbst wenn mein Körper es dringend bräuchte. Und der Alltag – Routine, Formalien, das endlose Kleinklein – steht ganz unten. Für andere ist er Halt, für mich ist er Bremse.

So entsteht am Ende ein Bild, das nicht objektiv gültig, sondern zutiefst persönlich ist: eine kleine Statistik meines Lebens. Balken, die nicht nur Prioritäten darstellen, sondern auch die Spannungen, die mich ausmachen. Und genau an dieser Stelle öffnet sich der Blick zum nächsten Schritt: von den Balken meiner Prioritäten hin zu den Strukturen meines Denkens, zu der Art und Weise, wie Aufmerksamkeit, Hyperaktivität, Sensibilität und Intelligenz in mir zusammenspielen. Dort beginnt mein Weg durch das wilde Absurdistan, das ich im zweiten Kapitel zu beschreiben versuche.