Teil II: Warum mich ein feministischer Buchtitel zunächst verärgert – und wie ich ihn trotzdem anders lesen kann

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Ich bin auf das Buch „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“ aufmerksam geworden, weil es in den letzten Jahren immer wieder als wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über Überlastung, Care-Arbeit und Gleichberechtigung genannt wird. Schon der Titel ist dabei so klar und zugespitzt formuliert, dass er eine Reaktion auslöst, noch bevor man sich mit dem eigentlichen Inhalt befasst.

Was mich an diesem Buch interessiert – und zugleich irritiert – ist genau diese Spannung:

Ich erkenne an, dass es reale, strukturelle Ungleichheiten gibt, und halte deren Analyse für notwendig. Gleichzeitig erlebe ich die Ansprache im ersten Moment so, als würde sie mich pauschal in eine Rolle einordnen, die meiner Haltung und meinem Verhalten nicht entspricht. Dieser Text ist der Versuch, diesen Impuls nicht emotional abzuwehren, sondern nüchtern zu analysieren.

Worum es in dem Buch geht – eine sachliche Zusammenfassung

Das Buch versteht Erschöpfung ausdrücklich nicht als individuelles Versagen oder als Folge mangelnder Selbstorganisation, sondern als strukturelles Phänomen. Die zentrale These lautet: In unserer Gesellschaft bestehen weiterhin Erwartungen, die sich in besonderer Weise an Frauen richten und diese dauerhaft überlasten.

Der Schlüsselbegriff ist dabei „Verfügbarkeit“. Gemeint ist nicht nur zeitliche Verfügbarkeit, sondern ein Bündel an Erwartungen: emotionale Präsenz, Sorgearbeit, körperliche Anpassung, sexuelle Ansprechbarkeit, soziale Zuständigkeit und das permanente Funktionieren in Familie, Beruf und Öffentlichkeit. Diese Erwartungen wirken oft gleichzeitig und verstärken sich gegenseitig.

Das Buch argumentiert, dass diese Form der Verfügbarkeit historisch, kulturell und ökonomisch gewachsen ist und bis heute fortwirkt – unabhängig davon, wie sehr sich formale Gleichberechtigung verbessert hat. Erschöpfung erscheint so nicht als persönliches Problem einzelner Frauen, sondern als Symptom eines Systems, das bestimmte Leistungen voraussetzt, ohne sie angemessen zu würdigen oder abzusichern.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei die ungleiche Verteilung von Care- und Sorgearbeit. Auch dort, wo Frauen erwerbstätig sind, tragen sie häufig zusätzlich die Hauptverantwortung für Organisation, emotionale Arbeit und familiäre Koordination. Das Buch beschreibt diese Mehrfachbelastung als strukturell und nicht als Ergebnis individueller Fehlentscheidungen.

Zugleich betont die Autorin, dass weibliche Erschöpfung nicht einheitlich ist. Je nach Lebenslage, sozialem Status, Herkunft oder Berufsgruppe wirken Verfügbarkeitsansprüche unterschiedlich stark. Der Anspruch des Buches ist es, diese Vielfalt mitzudenken, ohne den strukturellen Kern aus dem Blick zu verlieren.

Zusammengefasst:

Das Buch will zeigen, dass Erschöpfung politisch ist – und dass weibliche Verfügbarkeit ein zentraler Mechanismus ist, durch den gesellschaftliche Überforderung organisiert wird.

Warum mich Titel und Rahmung zunächst verärgern – aus der Perspektive eines nicht-patriarchalen Mannes

Bis zu diesem Punkt kann ich der Analyse weitgehend folgen. Und dennoch entsteht bei mir – als Mann, der sich bewusst nicht als patriarchal im Sinne von Dominanz, Entwertung oder Machtmissbrauch versteht – ein spürbarer Ärger. Nicht, weil ich die beschriebenen Probleme bestreite, sondern weil die Art der Adressierung etwas in mir auslöst, das sich nur schwer ignorieren lässt.

Dieser Ärger lässt sich in mehreren Punkten präzise benennen.

1. Der Titel setzt ein Deutungsraster, bevor Differenz möglich ist

„Die Erschöpfung der Frauen“ ist ein Titel, der sehr früh eine klare Zuordnung vornimmt. Er benennt eine Gruppe, markiert eine Betroffenheit und legt nahe, dass es hierfür eine spezifische Ursache gibt. Auch wenn das analytisch legitim ist, entsteht beim Lesen ein implizites Gegenüber: Wer gehört nicht zu dieser Gruppe – und welche Rolle nimmt er ein?

Als Leser, der selbst Verantwortung trägt, Leistungsdruck kennt und Erschöpfung erlebt, stellt sich unwillkürlich die Frage:

Wo komme ich hier vor – außer als Teil des Problems?

Der Untertitel „Wider die weibliche Verfügbarkeit“ verstärkt diesen Effekt. Er benennt nicht nur einen Zustand, sondern einen Widerstand. Damit wird ein Konflikt eröffnet, noch bevor die Differenzierungen des Textes greifen können.

2. Strukturkritik wird im Diskurs oft als pauschale Zuschreibung erlebt

Ein zentrales Problem moderner Gleichheitsdebatten liegt darin, dass analytische Strukturbegriffe im Alltag kommunikativ verkürzen. „Patriarchat“ wird dann nicht mehr als Beschreibung gesellschaftlicher Muster gelesen, sondern als moralischer Marker.

In diesem verkürzten Diskurs wird:

  • „Mannsein“ zur Abkürzung für Macht,
  • Macht zur Abkürzung für Schuld,
  • und Schuld zur Erklärung, warum Differenzierung entbehrlich sei.

Für Männer, die sich bewusst anders verhalten wollen oder tatsächlich anders handeln, entsteht daraus das Gefühl, dass das eigene Verhalten weniger zählt als die eigene Kategorie. Der Ärger richtet sich dann nicht gegen die Existenz struktureller Probleme, sondern gegen die Erfahrung, dass individuelle Verantwortung und Haltung im Diskurs kaum noch sichtbar werden.

3. Verantwortung wird erwartet – Resonanz bleibt aus

Ein weiterer Aspekt ist die asymmetrische Anerkennung von Belastung. Männer sollen Verantwortung tragen, reflektiert handeln und bestehende Strukturen hinterfragen. Gleichzeitig gilt männliche Erschöpfung häufig als normal, erwartbar oder selbstverschuldet – nicht als gesellschaftliches Problem.

Wenn ein Buch einen legitimen Raum für weibliche Erschöpfung öffnet, ohne zugleich deutlich zu machen, dass andere Formen von Überlastung ebenfalls strukturelle Ursachen haben können, entsteht ein Gefühl von Ungleichgewicht. Nicht im Sinne eines Wettbewerbs, sondern im Sinne öffentlicher Anerkennung.

Der Ärger entsteht hier nicht aus Neid, sondern aus dem Eindruck:

Es gibt Belastung, die erklärungswürdig ist – und Belastung, die einfach hingenommen wird.

4. Die männliche Anschlussfrage wird schnell delegitimiert

In vielen Debatten zeigt sich ein ähnliches Muster: Sobald Männer fragen, ob bestimmte Belastungsmechanismen nicht auch sie betreffen, wird diese Frage als Abwehr oder Relativierung gelesen. Die Nachfrage selbst gilt dann als Teil des Problems.

Für nicht-patriarchale Männer ist das eine schwierige Position. Sie wollen weder den Fokus verschieben noch die Analyse entwerten, erleben aber, dass ihre Perspektive kaum anschlussfähig ist. Der Ärger richtet sich in diesem Fall weniger gegen den Inhalt des Buches als gegen das kommunikative Umfeld, in dem solche Bücher gelesen und diskutiert werden.

5. Das Risiko einer immunisierenden Debatte

Schließlich gibt es ein strukturelles Risiko: Wenn Kritik so formuliert wird, dass jede Differenzierung als Abwehr gilt, entsteht eine Logik, in der Widerspruch die Diagnose bestätigt. Wer sich angesprochen fühlt, gilt als Teil des Problems; wer sich distanziert, ebenfalls.

In einem solchen Klima kann bereits ein Titel verärgern, weil er signalisiert:

Du bist hier nicht eingeladen, sondern gemeint.

Eine alternative Lesart: Wie ich das Buch verstehen kann, ohne mich angegriffen zu fühlen

Nach dieser Analyse bleibt eine zweite Möglichkeit: Ich kann das Buch bewusst anders lesen – nicht als moralische Anklage, sondern als zugespitzte Systembeschreibung. Diese Lesart ist kein Zwang, sondern eine Entscheidung.

1. Der Titel als Fokus, nicht als Ausschluss

Ich kann den Titel als thematische Setzung verstehen: Das Buch will nicht Erschöpfung insgesamt erklären, sondern eine spezifische Form davon sichtbar machen. Dass andere Gruppen ebenfalls erschöpft sind, wird dadurch nicht negiert – es ist schlicht nicht das Thema dieses Buches.

Diese Lesart verlangt, den Anspruch auf vollständige Repräsentation zugunsten analytischer Schärfe zurückzustellen.

2. „Patriarchal“ als Strukturbegriff, nicht als Charakterurteil

Wenn ich „Patriarchat“ konsequent als Beschreibung historisch gewachsener Muster lese, dann richtet sich die Kritik nicht gegen mich als Person, sondern gegen Mechanismen, in denen ich – wie alle anderen – eingebunden bin.

Das funktioniert allerdings nur, wenn die Unterscheidung zwischen Struktur und Verhalten ernst genommen wird. Verantwortung heißt dann: reflektieren und verändern können – nicht: schuldig sein.

3. „Weibliche Verfügbarkeit“ als kulturelles Erwartungsarrangement

In dieser Lesart bezeichnet Verfügbarkeit kein bewusstes Einfordern durch einzelne Männer, sondern ein Geflecht aus Normen, Routinen und institutionellen Anreizen. Viele dieser Erwartungen wirken unabhängig von individueller Absicht – und werden von allen Geschlechtern mitgetragen.

Damit verliert der Begriff seinen anklagenden Charakter und wird analytisch präziser.

4. Der Mann als potenzieller Verbündeter, nicht als Angeklagter

Wenn das Buch Widerstand gegen ungerechte Erwartungen beschreibt, kann ich es auch als Einladung lesen, genauer hinzusehen: Wo entstehen unausgewogene Belastungen? Wie lassen sich Zuständigkeiten fairer verteilen? Welche Normen sollten grundsätzlich infrage gestellt werden?

In dieser Perspektive bin ich nicht Adressat einer Schuldzuweisung, sondern Teil eines gesellschaftlichen Lernprozesses.

Schluss: Der Ärger bleibt verständlich – aber er muss nicht das letzte Wort haben

Mein anfänglicher Ärger ist real und begründbar. Er weist auf eine diskursive Schieflage hin: Dort, wo Identität an die Stelle von Verhalten tritt, wird Kritik zwar laut, aber ungenau.

Gleichzeitig eröffnet die alternative Lesart die Möglichkeit, das Buch als das zu lesen, was es sein will: eine fokussierte Analyse weiblicher Erschöpfung – nicht als Urteil über Männer, sondern als Beschreibung eines gesellschaftlichen Problems.

Vielleicht liegt die produktive Spannung genau hier:

Ich darf mich an der Ansprache reiben, ohne die Problembeschreibung zu leugnen. Und ich darf den Fokus akzeptieren, ohne meine eigene Perspektive aufzugeben.

Wenn ein Diskurs beides aushält – strukturelle Kritik und die Differenz zwischen Macht und Verhalten –, dann wird aus einem verärgernden Titel vielleicht kein Konsens, aber etwas Wertvolleres: ein präzises, ehrliches Gespräch.

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